Praxis

Lerntherapie in einer luxemburgischen Schule

Seit September 2017 gibt es an Grundschulen des Großherzogtums Luxemburg Förderlehrer_innen, um Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen beim Lernen zu unterstützen. Ziel ist, dass alle Schulen Luxemburgs mit solch einer Lehrperson für Kinder mit besonderen Bedürfnissen (Instituteur pour enfants à besoins spécifiques – IEBS) zusammenarbeiten können.




Die Verbindung von arithmetischen und geometrischen Aktivitäten bietet viele Chancen für einen kindorientierten Unterricht. So kann beispielsweise die Spiegelung das Verdoppeln in der Arithmetik veranschaulichen.

Der Aufgabenbereich einer solchen Lehrperson ist sehr weitreichend. Auch wenn die Bezeichnung Lerntherapeutin bzw. Lerntherapeut an luxemburgischen Schulen nicht genutzt wird, ist die Arbeit doch lerntherapeutische Arbeit. Sie ist nicht nur auf das Schließen aktueller fachlicher Lücken beschränkt ist, sondern hat das lernende Kind und dessen Entwicklung als Ganzes im Blick.
Als Lerntherapeut_innen (IEBS) sind wir wie jede andere Lehrperson an der Schule vom Staat angestellt und arbeiten die gleiche Stundenzahl wie ein Klassenlehrer. Das Besondere ist, dass wir während der regulären Schulstunden einzelne Kinder fördern. Wir arbeiten auf Anfrage und in engem Kontakt mit den Klassenlehrer_innen, denn die Lehrpersonen in den Klassen kennen die Stärken und Schwächen ihrer Schützlinge am besten.

Arbeitsweise von Lerntherapeut_innen in der Schule

Hat ein Kind Schwierigkeiten in einem schulischen oder sozio-emotionalen Bereich, fragt die Klassenlehrerin bzw. der Klassenlehrer bei der Lerntherapeutin bzw. beim Lerntherapeut an und erbittet Hilfe. Ein erster Austausch mit der Lehrperson findet statt um die Bedürfnisse des Kindes ausgehend von dessen Stärken abzuklären. Dazu kommt die Arbeit mit dem Kind: Beobachtungen im Klassenalltag oder eine Stunde gemeinsamer Arbeit, in der in einem diagnostischen Gespräch ein Einblick in die Kompetenzen des Schülers gewonnen wird. Um das Kind gemeinsam beim Lernen zu unterstützen wird ein Förderplan erstellt, in dessen Umsetzung natürlich auch die Lehrperson einbezogen wird. Sie erhält Tipps und bei Bedarf differenzierendes Material, um die Arbeit mit dem Kind im Klassenverband zu optimieren.
Diese Förderpläne werden selbstverständlich auch mit den Eltern abgesprochen und gegebenenfalls auch mit externen Partnern abgeklärt, um ein divergierendes Arbeiten mit anderen Spezialisten zu vermeiden.

Bedürfnisgerechte und individuelle Förderung der Kinder

Von Fall zu Fall werden Kinder mit gleichen Bedürfnissen in kleinen Gruppen zusammengefasst und erhalten dann differenzierende Lernangebote, um Lernschwierigkeiten zu reduzieren oder gar ganz aufzuarbeiten. Bei einigen Kindern ist es jedoch unverzichtbar, in Einzelsitzungen zu arbeiten, um sicher und schnellstmöglich gute Resultate zu erzielen. Diese Therapiestunden finden in einem separaten Raum der Schule statt, wo das Kind unter optimalen Lernbedingungen hinsichtlich der erforderlichen Ruhe, des notwendigen Materials und nicht zuletzt ohne den Druck des Vergleichs mit anderen Kindern arbeiten kann.

Einzelstunden mit Sophie

Beispielsweise hatte Sophie in der dritten Klasse Probleme mit der Multiplikation. Bereits nach ersten Beobachtungen wurde klar, dass sie nur sehr geringe Vorstellungen vom Zahlenraum bis 100 und den Operationen hatte. In Einzelstunden wurde zunächst der Zahlenraum bis 100 aufgebaut, wurden die Vielfachen von zehn mit 10er-Eierkartons realisiert und identifiziert. Beliebige zweistellige Zahlen wurden mit Material sowie auf dem Zahlenstrahl dargestellt und identifiziert. Zur Verbesserung des „Zahlgefühls“, des Wissens um die Relationen zwischen einzelnen Zahlen, wurde ein großer Zahlenstrahl abgeschritten, um dort markante Punkte wie etwa 50 als die Hälfte von 100 oder 98 als „kurz vor der 100“ mental zu verorten. Diese Therapieeinheit dauerte sechsmal je eine Stunde. Sophie konnte danach wieder aktiv am Unterricht ihrer Klasse teilnehmen, weil die Grundvorstellung des Zahlenraums neu erarbeitet wurde.

Derartige Therapiestunden finden regelmäßig statt, bis das jeweilige Kind die gesetzten Ziele erreicht hat und sich auch selbst kompetent zum Lösen der Aufgaben fühlt. Dieser Selbstwert und die Selbstwirksamkeit sind Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit mit den Kindern: Wenn ein Kind an sich selbst und seine Stärken glaubt, werden die Möglichkeiten unserer Arbeit erweitert. Damit Lernen erfolgreich ist und allen Beteiligten Freude macht, sollten sie für das Kind und seine Kompetenzen zusammenarbeiten, denn nur zusammen und im gegenseitigen Vertrauen können wir Berge versetzen.

Nicht zuletzt: Was ist wertvoller als eine auf erlebten Erfolgen basierende positive Einstellung zum Fach Mathematik.

Über die Autorin

Julie Bové arbeitete nach ihrem Studium zunächst als Lehrerin an der Grundschule in Mamer (Luxemburg). Um die aus der Heterogenität der Schüler erwachsenden Anforderungen besser bewältigen zu können, studierte sie am Zentrum für Wissenstransfer der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd im weiterbildenden Studiengang Integrative Lerntherapie (M.A.). Etwa zur gleichen Zeit wurde in Luxemburg die lerntherapeutische Arbeit an Schulen fest etabliert. So ist Frau Bové mittlerweile als „Instituteur pour enfants à besoins spécifiques“ an der Schule in Mamer tätig.

In ihrer ausgezeichneten Masterarbeit ging Frau Bové der Frage nach, an welchen grundlegenden mathematischen Anforderungen viele Schülerinnen und Schüler zu Beginn der dritten Klasse scheitern und wie diese Lernschwierigkeiten bereits in Klasse 2 vermieden bzw. wie sie in Klasse 3 überwunden werden können.