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Was versteht man unter Beziehungslernen?

Im vorliegenden Beitrag zeigt Frau Dr. Helga Breuninger die Bedeutung sozialer Beziehungen für die Leistungsfähigkeit. Kindern lerntherapeutisch helfen bedeutet deshalb zuerst, das Kind mit seinen Potentialen zu sehen und ihm zugleich die Sicherheit zu geben, dass es mit seinen Potentialen gesehen wird. Erst auf dieser Basis kann erfolgreich fachlich gearbeitet werden, kann eine auf erlebten Erfolgen basierende positive Einstellung zu Leistungsanforderungen erreicht und dabei zugleich wieder die Beziehung gestärkt werden. Alles in allem ein Beitrag, bei dem sich mehrfaches nachdenkliches Lesen lohnt.




Mitbegründerin des Fachverbandes für Integrative Lerntherapie e.V.: Helga Breuninger

Was versteht man unter Beziehungslernen?

Beziehungslernen verändert die Wahrnehmung, das Erleben und Bewerten von Situationen. Wer Potenziale statt Probleme wahrnimmt, schafft einen aktivierenden, lernförderlichen Resonanzraum. Er wirkt sowohl in einzelnen Begegnungen als auch auf die ganze Klasse einladend und ermutigend.
Beziehungslernen führt zur lerntherapeutischen Haltung. Diese eröffnet einen einladenden ermutigenden Resonanzraum und stärkt Kinder und Jugendliche durch den Potenzialblick, der Zutrauen vermittelt und Potenziale erkennt.
Aus dieser Haltung gelingt es, Kinder und Jugendliche zu aktivieren und zu beteiligen, anstatt sie zu disziplinieren und zu belehren. Die Haltung hilft, im Konflikt verbunden und empathisch zu bleiben.
Wer dagegen von Erwartungen geprägt ist und sein Erleben von Situationen und Verhalten mit diesen inneren Erwartungen vergleicht, nimmt Defizite als Probleme wahr, die er nicht lösen kann. Der Problemblick schwächt und überträgt sich als beklemmender, entmutigender Resonanzraum. Er schwächt das Zutrauen und die Lernfreude.
Beziehungslernen leitet den Haltungswechsel aus der Bewertung in die Wertschätzung an. Wer offen, empathisch, souverän und lösungsorientiert unerwarteten Situationen begegnet, kann kreative Lösungen entwickeln und die Betroffenen beteiligen. Das ist so viel wirkungsvoller und vor allem gesünder als wirkungslose Appelle und Ermahnungen.

Potenzialentfaltung braucht den Potenzialblick!
Wer akzeptiert, was ist, kann intuitiv verstehen, was geschieht, empathisch Bedürfnissen erspüren und Potenziale erkennen. „Im Potenzialblick gelingt der Rollenwechsel vom Wissensvermittler zum Lernbegleiter.“ (Weiss/Breuninger 2021)

Welche Relevanz hat die Beziehung von Lehrenden und Lernenden in der Bildung?

Wer sich gesehen fühlt und ein Zutrauen in seine Lern- und Leistungsbereitschaft erfährt, leistet mehr. Alle Metastudien zur Bildungsforschung – die Hattie-Studie ist nur eine davon – belegen empirisch den Zusammenhang von Beziehung und Leistung. Viele Faktoren wurden von Hattie untersucht, wie sie auf Lernleistungen wirken. „Die Beziehung zwischen Lehrperson und Schüler oder Schülerin wirkt sich besonders stark auf die Lernleistungen der Lernenden aus. Es ist das Aktzeptiert- und Gesehenwerden und die Erfahrung, im Klassenzimmer anerkannt zu sein.“ (S. 141). „Die Lehrkräfte zeigen Verständnis für die Kinder und Jugendlichen, geben ihnen Feedback und vermitteln ihnen Sicherheit.“ (Hattie, John, 2013)

„Auch die Neurowissenschaften bestätigen die Bedeutung gelingender pädagogischer Beziehungen für den Aufbau von Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit als Grundlage von Resilienz und Lernerfolg.“
(Bauer 2019)

„In der heutigen Zeit haben immer weniger Kinder und Jugendliche noch Angst vor Autoritäten. Sie lassen sich von ihren Lehrkräften nicht mehr einschüchtern, entwerten, demütigen und unterwerfen. Sie rebellieren, drohen mit Gewalt, gehen in den Widerstand und verstricken die Lehrkräfte in Machtkämpfe. Beziehungskompetenten Lehrpersonen gelingt die Kooperation mit Kindern und Jugendlichen über inhaltliche Orientierung, souveränes Setzen von Grenzen, Wertschätzung und Würdigung.“ (Breuninger/Schley 2014)

Das Wirkungsgefüge des Lernens

„Beim Lernen wirken drei Dialoge zusammen: Beziehungsdialog, Lerndialog und innerer Dialog.“ (Betz/Breuninger 1988) Im blauen Beziehungsdialog geht es um Kontakt, Vertrauen und um Gesehenwerden. Wenn sich Kinder und Jugendliche verstanden und respektiert fühlen, kooperieren sie mit den Erwachsenen. Im grünen Lerndialog geht es um den Kompetenzerwerb über Impulse und Aufgabenstellungen. Alles Lernen findet im orangenen, inneren Dialog statt. Lernen gelingt, wenn sich Kinder und Jugendliche Lernerfolge zutrauen und Lernimpulse motiviert aufgreifen.

„Das Zutrauen und das Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen wird im Beziehungsdialog über Ermutigung, Anerkennung und Wertschätzung von Lehrpersonen gestärkt. Beziehungslernen liefert dafür die 'soziale Grammatik'“. (Breuninger/Schley 2019)

Wie kann Beziehungskompetenz trainiert werden?

Das Trainingsmedium fürs Beziehungslernen sind Staged Videos. Sie helfen, die Wahrnehmung zu schulen, Intuition und Empathie zu stärken, Potenziale in Personen und Situationen zu erkennen und sie für Lösungen zu nutzen. Die Videos machen die Wirkungen verinnerlichter Glaubenssätze und Muster sowie negativer Zuschreibungen auf die Kinder und Jugendlichen sichtbar. Beziehungen werden erlebt und erspürt. Vieles läuft nonverbal ab. Im Tonfall vermittelt sich die Stimmung und im Blickkontakt das Verständnis. Trainiert werden Intuition, Empathie und Wahrnehmung. Wir sind unserer Wahrnehmung nicht ausgeliefert, sondern können entscheiden, ob wir uns auf Defizite und Probleme konzentrieren, die uns schwächen oder Gelingendes und Potenziale wahrnehmen, die uns stärken. Dadurch verändert sich das Erleben von Situationen und Personen grundlegend. Wer Gelingendes und Potenziale statt Defizite und Probleme wahrnimmt und anspricht, schafft eine aktivierende, lernförderliche Atmosphäre, die auf die ganze Klasse wirkt. Es ist die Haltung von Lehrkräften, die sich Kindern und Jugendlichen intuitiv vermittelt. Wer Kinder und Jugendliche aktivieren und beteiligen will, anstatt sie zu disziplinieren und zu belehren bleibt auch im Konflikt verbunden und empathisch. Eine solche Haltung lässt sich trainieren. Beziehungskompetentes Verhalten entwickelt sich daraus spontan in der Situation.

Die Haltung kann mit dem intus3-Trainingsprogramm zum Beziehungslernen kostenlos auf der Lernen.Cloud geübt werden. Lehrkräfte lernen zu akzeptieren, was ist, intuitiv zu verstehen, was geschieht, empathisch Bedürfnisse zu erspüren und Potenziale zu erkennen, die für Lösungen genutzt werden können.

Das Trainingsmedium sind „Staged Videos“. Erlebte Situationen werden zu Szenen (30-60 Sekunden) verdichtet, nachgestellt und gefilmt. Die Videos helfen, die Wahrnehmung zu schulen, Intuition und Empathie zu stärken, Potenziale in Personen und Situationen zu erkennen und sie für Lösungen zu nutzen. Die Videos machen die Wirkungen von Lehrerverhalten auf Kinder und Jugendliche sichtbar (www.intushochdrei.de).

Die resonante Haltung ist nicht nur hilfreich für die pädagogische Beziehung. Auch im Privatleben stärkt sie persönliche Beziehungen durch Akzeptanz, Wohlwollen und Wertschätzung, stärkt die Gesundheit und führt zu einer Lösungsorientierung.
 

Literatur

  • Bauer, J. (2019). Wie wir werden, wer wir sind – die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, München: Blessing
  • Betz, D., & Breuninger, H. (1998). Teufelskreis Lernstörungen: Theoretische Grundlegung und Standardprogramm. Weinheim: Beltz
  • Breuninger, H., & Schley, W. (2014). Pädagogische Führung als dialogische Intervention. Lernen und Lernstörungen, 3(4), 292-301. https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000084
  • Breuninger, H., & Schley, W. (2019). Beziehung und Leistung. Download bei www.intushochdrei.de
  • Intus3 Beziehungslernen: www.intushochdrei.de
  • Weiss, S., & Breuninger H. (2021). Potenziale im Blick, Wege zu einer zukunftsfähigen Bildung. evolve 30(4), S. 26-27

Über die Autorin

Dr. Helga Breuninger
Wer sich mit dem Thema Integrative Lerntherapie beschäftigt, wird sehr rasch auf Dr. Helga Breuningers Veröffentlichungen stoßen. Frau Dr. Breuninger beschäftigt sich seit den 70ger Jahren mit Lernschwierigkeiten insbesondere beim Erlernen des Lesens und Schreibens, darüber hinaus aber auch mit generellen überfachlichen Fragen und Gelingensbedingungen von Lerntherapie. So promovierte Frau Dr. Helga Breuninger 1980 im Fach Psychologie zum Thema „Lernziel Beziehungsfähigkeit – die Verschränkung praxisnaher Ausbildung mit Therapieplätzen“. Das von Helga Breuninger und Dieter Betz veröffentlichte Werk „Teufelskreis Lernstörung“ zählt zu den Standardwerken im Studium von Lerntherapeut_innen. Nicht zuletzt war Frau Dr. Helga Breuninger maßgeblich an der Gründung des Fachverbandes für Integrative Lerntherapie e.V (FiL) beteiligt und leitete diesen bis 1999.