Studium

Interview mit Prof. Dr. Klaus-Peter Eichler: „Wenn das Zählen zu lange dauert“

Weshalb Professor Dr. Klaus-Peter Eichler sich Lerntherapeuten an allen Schulen wünscht und wie Interessierte an der Gmünder PH zum Lerntherapeuten werden können. Interview mit Prof. Dr. Klaus-Peter Eichler, Studiengangsleiter Integrative Lerntherapie




Professor Dr. Klaus-Peter Eichler. © Enßle, Marie

Manche Kinder können selbst am Ende der vierten Klasse nicht richtig lesen oder ihnen fällt das Rechnen sogar im Zahlenraum bis 20 schwer. Mit der Zeit entwickeln sie deshalb Ängste vor der Schule und sind nicht selten nur noch gefrustet. Diese Kinder benötigen professionelle Hilfe durch Lerntherapeuten, von denen mittlerweile recht viele hier in Gmünd studierten. Ein Gespräch mit Professor Dr. Klaus-Peter Eichler über Rechenschwäche und seinen Traum von der Schule als einem Haus des Lernens für alle Kinder.


Maria Enßle: Was macht ein Lerntherapeut?

Klaus-Peter Eichler: Ein Lerntherapeut arbeitet mit Kindern, die gravierende Probleme beim Erlernen des Rechnens oder des Lesens und Schreibens haben. Meist sind diese Probleme durch vom Kind nicht bewältigte stoffliche Hürden verursacht, die weitere Fehlleistungen nach sich ziehen. Das wird oftmals viel zu spät erkannt, so dass die notwendige Hilfe für die Kinder innerhalb des Unterrichtes kaum erfolgen kann. Dort gehen diese Kinder unter. Die in der Grundschule in Mathematik und Deutsch erworbenen Kenntnisse sind das Fundament für alle weiteren Schuljahre und die Lebensbewältigung: Mangelnde Lesekompetenz beispielsweise wirkt sich ja nicht nur aufs Fach Deutsch, sondern auf alle anderen Schulfächer aus. Lerntherapeut_innen arbeiten mit Kindern abseits des Unterrichts. Sie geben professionelle Hilfe, helfen Schulfrust und Ängste abzubauen und sich wieder über Lernerfolge zu freuen. Man darf nicht vergessen, dass in der Schulzeit das Lernen die dominierende Tätigkeit ist und dass für Kinder deshalb Lernerfolge Lebenserfolge sind. Wie wichtig Lebenserfolge sind, weiß wohl jeder von uns nur zu gut.

Maria Enßle: Wie bemerkt eine Lehrkraft, dass professionelle Hilfe nötig ist?

Klaus-Peter Eichler: Es gibt ein breites Spektrum von Indizien. Wenn ein Kind zum Beispiel kaum realistische Vorstellungen von Mengen hat, wenn es beim Abzählen von Gegenständen die Zahlwörter den gezählten Objekten nicht korrekt zuzuordnen vermag und Anzahlen nicht korrekt bestimmen kann oder wenn ein Kind selbst in den Klassen 3 und 4 viele Aufgaben nur zählend ausrechnet, ohne Vereinfachungen zu erkennen und zu nutzen. Damit meine ich Kinder, die etwa bei der Aufgabe 2 + 17 von der zwei an 17 Schritte weiterzählen, statt von der 17 zwei Schritte. Gerade „zählende Rechner“ fallen oft dadurch auf, dass sie in Tests nur wenige Aufgaben gelöst haben und diese wenigen Lösungen richtig sind. Nicht selten wird die Einschätzung getroffen, dass dieses Kind „es ja kann“ und einfach mehr üben muss. Dann wird geübt und geübt und der Erfolg bleibt aus. Das ist zu erwarten, denn in der Regel zählen die Kinder mit atemberaubender Geschwindigkeit, die auch ein längeres Üben nicht zu steigern vermag. Das Kind benötigt professionelle Unterstützung.

Maria Enßle: Und die könnte ein Lerntherapeut geben?

Klaus-Peter Eichler: Ja, genau. Lerntherapeuten schauen sich ein Kind genau an, suchen, wo die Ursache des Problems liegt, erarbeiten einen Förderplan für das Kind und setzen diesen um. Das geht nicht nach einem bestimmten Programm nach Schema, sondern muss individuell abgestimmt sein. Sie helfen dem Kind, tragfähige Vorstellung aufzubauen, was zum Beispiel Zahlen sind und was Ausdrücke wie zum Beispiel 4 + 3 oder 4 • 3 bedeuten.

Maria Enßle: Können Sie ein Beispiel nennen?

Klaus-Peter Eichler: Kinder mit Rechenstörung erkennen zum Beispiel nicht von alleine, dass 7 + 3 die Zahl 10 ergibt und 3 + 7 ebenfalls 10 ergibt. Zur Unterstützung kann beispielsweise mit dem 20er-Rechenrahmen - dem Abakus - und mit Bildern gearbeitet werden. Das ist ein langwierigerer Prozess, der aber notwendig ist, um Fundamente zu sichern. Lerntherapeuten arbeiten in der Regel nicht am aktuellen Lernstoff, sondern sichern Vorstellungen von Zahlen und Operationen und die notwendigen Rechenwege. Die Eltern müssen dann mithelfen: Wenn das Kind einen Rechenweg verstanden hat, dann muss es ihn üben. Das ist in der Mathematik genauso wichtig wie beim Fußballspielen oder beim Erlernen eines Instrumentes.

Maria Enßle: Und wie kommt der Lerntherapeut zum Kind?

Klaus-Peter Eichler: Der Idealzustand wäre, dass ein Lerntherapeut zur Schule gehört wie Lehrer, Hausmeister, Küchenkräfte und Schulsozialarbeiter. Dann ist die Schule ein Haus des Lernens für alle Kinder. In anderen Ländern, zum Beispiel in Luxemburg, ist dies bereits der Fall. Der Lerntherapeut könnte am Vormittag jene Kinder in Einzel- oder Kleinstgruppenarbeit betreuen, die in der zur gleichen Zeit stattfindenden Mathematikstunde sowieso keine Chance haben. Geht es dort etwa um das Rechnen bis 1000, sind sie ohne eine Chance, weil sie selbst das Rechnen bis 20 nicht beherrschen. Nicht zuletzt ist der Vormittag eine für das Lernen wesentlich bessere Zeit als nach dem Unterricht und den Hausaufgaben, denn dann ist bei den Kindern die Luft raus.

Maria Enßle: Wer bezahlt die Therapie?

Klaus-Peter Eichler: In Deutschland müssen sich Eltern in der Regel selbst um eine Lerntherapie für ihr Kind kümmern und diese oft auch bezahlen. Es gibt allerdings die Möglichkeit der Kostenübernahme nach den Regelungen des Sozialgesetzbuches. Da der Begriff Lerntherapeut nicht geschützt ist, sollten Eltern genau hinschauen und auf die Qualität achten. Ein Qualitätsnachweis ist der Abschluss als Integrative Lerntherapie (B.A.) oder Integrative Lerntherapie (M.A.).

Maria Enßle: Wie sieht das Studium aus?

Klaus-Peter Eichler: Das Studium umfasst in drei Jahren je zehn Präsenzwochenenden. Der Aufwand einschließlich der Zeit für das Selbststudium ist so bemessen, dass das Studium auch berufsbegleitend gut möglich ist. Dank des modularen Aufbaus kann die Studiendauer sehr gut an die persönlichen Möglichkeiten angepasst werden. Das Studium gliedert sich inhaltlich in die Bereiche Lerntherapie, Mathematik sowie Deutsch. Im Bereich Lerntherapie stehen all jene Fragen im Mittelpunkt, welche die überfachlichen Lernvoraussetzungen betreffen.

Maria Enßle: Größere Klassen, mehr Kinder mit schlechten Sprachkenntnissen - das macht die Situation nicht einfacher.

Klaus-Peter Eichler: Umso wichtiger wäre es, Lerntherapeuten an Schulen zu integrieren. Die Heterogenität in den Klassen nimmt zu. Kinder müssen beispielsweise zuerst die Ausdrücke verstehen, um rechnen zu können. Das ist mit schlechten Deutschkenntnissen noch schwieriger. Oft sind es ja gleiche Wörter und Wendungen, die völlig verschiedene Bedeutungen haben. Das Wort „daraufliegen“ ist aus Sätzen wie „Opa liegt auf dem Sofa“ bekannt und wohl jeder hat dazu ein Bild im Kopf. Wenn es dagegen heißt „der Punkt liegt auf der Geraden“, ist das Bild ein ganz anderes. Hier helfen nur eine konsequente Sprachförderung und Gebrauch der deutschen Sprache im Unterricht. Auch hier gilt: Lerntherapeuten an Schulen wären gut angelegtes Geld.

Maria Enßle: Vielen Dank für das Interview.

Das Interview führte Marie Enßle von der Gmünder Tagespost, Erschienen am 27.02.2023

Zum Studiengang

Voraussetzungen zum Studium sind ein erster berufsqualifizierender akademischer Abschluss und Erfahrungen in der einschlägigen praktischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Gebühren für das gesamte Studium betragen 10.500 Euro (pro Semester 1750 Euro). Darin enthaltene Leistungen sind Präsenzseminare, Seminarunterlagen, Zertifikate, Nutzung der Informations-und Kommunikationsplattform des Studienganges, die Betreuung von Studium und Modulprüfungen.

Interessent_innen können sich für das Studium zum Master Integrative Lerntherapie (M.A.) mit Beginn am 13. Oktober in Potsdam und am 19. April 2024 in Schwäbisch Gmünd bewerben.

Weitere Informationen gibt es auf der Seite des Studienganges.

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